Produktivität einer Krise. Die Regierungszeit Ludwigs des Frommen (814-840) und die Transformation des karolingischen Imperiums

Produktivität einer Krise. Die Regierungszeit Ludwigs des Frommen (814-840) und die Transformation des karolingischen Imperiums

Organisatoren
Forschungsprojekt HLUDOWICUS
Ort
Limoges
Land
France
Vom - Bis
16.03.2011 - 19.03.2011
Url der Konferenzwebsite
Von
Sören Kaschke, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Die vom 16.-19. März 2011 in Limoges abgehaltene internationale Tagung „La productivité d'une crise. Le règne de Louis le Pieux (814-840) et la transformation de l’Empire carolingien – Produktivität einer Krise. Die Regierungszeit Ludwigs des Frommen (814-840) und die Transformation des karolingischen Imperiums“ markierte den Abschluss des dreijährigen deutsch-französischen Forschungsprojekts HLUDOWICUS. Gemeinsam gefördert von der Agence Nationale de la Recherche (ANR) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) hatte das Projekt zum Ziel, ein Erklärungsmodell der karolingischen Gesellschaft und ihres Wandels in den Krisenjahren der Herrschaft Kaiser Ludwigs des Frommen zu entwickeln. Gerade in diesen unruhigen Zeiten, so die Prämisse des Projekts, als sich Klerus und Große auf ihr Recht beriefen, dem Herrscher entgegenzutreten und ein eigenes Gesellschaftsmodell zu verfechten, entstanden neue Formen der kontraktuellen Bindung zwischen König, Kirche und Aristokratie. Das Programm der Tagung mischte hierzu sechs Vorträge, in denen Mitglieder der Projektgruppe deren Ergebnisse präsentierten und zur Diskussion stellten, mit weiteren 22 Vorträgen europäischer und nordamerikanischer Mediävisten zu verbundenen Aspekten der karolingischen Welt des 9. Jahrhunderts.

Der abendliche Auftaktvortrag von JEAN-MARIE MOEGLIN (Paris) zum Bild Ludwigs des Frommen in der Geschichtsschreibung vom 9. bis zum 20. Jahrhundert verdeutlichte, dass die reflexhafte Assoziation des Kaisers mit Schwäche und Krise erst vergleichsweise spät entstand. Entsprechend griff die einleitende erste Sektion der Tagung mehrfach die Frage nach der Spannung zwischen moderner Kategorisierung und zeitgenössischer Wahrnehmung auf. So plädierte STEFFEN PATZOLD (Tübingen) für einen Krisenbegriff, der im Sinne der ursprünglichen Wortbedeutung auf eine anstehende Entscheidung abstellt. Alle drei Vorträge der Sektion beschäftigten sich exemplarisch mit Steuerungsinstrumenten und deren Wandel unter Ludwig dem Frommen: Patzold thematisierte die Entstehung von Kapitularien, während die beiden Projektleiter PHILIPPE DEPREUX (Limoges) und STEFAN ESDERS (Berlin) Änderungen in der Urkundenpraxis bzw. im Hofgericht, etwa hinsichtlich des Einsatzes von Bürgen, vorstellten. Dabei verwies Esders auf die paradoxe Situation Ludwigs, dessen zur Abhilfe der wahrgenommenen Krise geplante Maßnahmen rückblickend eher dazu geeignet waren, die Krise zu verschärfen, insofern die nun verstärkte reglementierende Intervention der Zentralgewalt vor Ort geradezu zwangsläufig für Unzufriedenheit bei den jeweils betroffenen lokalen Gewalten sorgte.

In der zweiten Sektion widmete sich FRANÇOIS BOUGARD (Paris) der Rolle Italiens in der Krise, insbesondere als sichere Basis des ältesten Kaisersohnes Lothar. HERMANN KAMP (Paderborn) richtete den Blick nach Norden auf die Kontakte mit Dänemark. Dabei konnte er zeigen, dass ein Übertritt von Bündnispartnern zum Christentum weder verlangt noch erwartet wurde, jedenfalls nicht, solange die Partner außerhalb des Frankenreichs blieben.

Beide folgende Sektionen nahmen die politisch-theologische Gedankenwelt der Zeit und deren Umgang mit der Krise in den Blick. So widmete sich YVES SASSIER (Paris) der zeitgenössischen Analyse von Autorität und deren Delegation, wobei er unter anderem ein Wiederaufleben merowingischer Terminologie konstatierte. LAURENT JEGOU (Paris) verwies auf die Rechtsreformen Ludwigs, die zugleich ein Instrument zur Moralisierung der Gesellschaft schaffen sollten. MAXIMILIAN DIESENBERGER (Wien) wandte sich darauf bayerischen Predigtsammlungen zu. Dieses Material offenbarte nicht allein die politische Instrumentalisierung von Predigten, sondern auch die vom moralischen Rigorismus des Hofes vertiefte Kluft gegenüber den Regionen. Mit dem Komplex der pseudo-isidorischen Fälschungen beschäftigten sich KARL UBL (Princeton) und KARL-GEORG SCHON (Berlin). Während letzterer einen allgemeineren Überblick über den gegenwärtigen Forschungsstand und verbleibende ungeklärte Punkte beisteuerte, konzentrierte sich Ubl auf die Fälschung weltlicher Rechtsquellen (Benedictus Levita). Dass die geistlichen Fälscher auch in diesem Bereich tätig wurden, erklärte er mit deren Überzeugung, die von ihnen gewünschten Rechtsreformen auf anderem Wege nicht gegenüber dem Herrscher durchsetzen zu können. FLORENCE CLOSE (Liège) wandte sich schließlich dem politischen Augustinismus sowie dessen neuzeitlicher Erforschung besonders durch Henri-Xavier Arquillère zu.

Mit Sektion fünf gerieten die materiellen Entwicklungen in den Fokus der Tagung. Den Auftakt lieferte JEAN-PIERRE DEVROEY (Brüssel), der zunächst die Abfolge etwa 50-jähriger Konjunkturzyklen – an Stelle des herkömmlich angenommenen linearen Verfalls und Wiederaufstiegs von der Spätantike bis zum 14. Jahrhundert – zur Diskussion stellt. In diesem Modell komme, auch hinsichtlich des unter Ludwig noch stabilen Münzwesens, erst den 840er-Jahren der Charakter einer Umbruchszeit zu. Ähnliche Ergebnisse präsentierte JOSIANE BARBIER (Paris). So könne von einer Verschleuderung des Fiskalbesitzes durch Ludwig keine Rede sein. Vielmehr habe dieser die vorhandenen Ressourcen und Einkünfte erhalten und klug verwaltet. Auf Veränderungen in der Urkundenpraxis Ludwigs wurde hierbei jedoch nicht eingegangen. PETER LANDAU (München) wies abschließend das Capitulare de Villis in Verteidigung der älteren Position von Alfons Dopsch der Frühzeit Ludwigs des Frommen als Unterkönig in Aquitanien zu. Im Ergebnis der Sektion stellte sich somit zumindest der Bereich der Wirtschaft unter Ludwig als weitgehend krisenfrei dar.

Die sechste Sektion wurde eröffnet von RÉGINE LE JAN (Paris), die auf den familiären Aspekt der Krise hinwies. So hätten sich in den Konflikten dieser Jahre viele Akteure entlang den Linien familiärer Netzwerke positioniert, etwa wenn Ludwig der Fromme dazu überging, seine engere Familie zulasten der weiteren Verwandtschaft zu bevorzugen. Die beiden folgenden Vorträge wandten sich anschließend wieder dem geistlichen Bereich zu. So verwies MATTHIAS KLOFT (Frankfurt/Main) auf die wachsende Bedeutung des Taufritus als Ausdruck eines Paktes zwischen den Franken und Gott, wobei der Ritus zugleich in Verbindung mit der parallelen Fortentwicklung der Königssalbung zu setzen sei. RAFFAELE SAVIGNI (Bologna) stellte das zeitgenössische Modell der ecclesia als umfassenden Sozialverband vor. Besonderes Augenmerk galt dabei den Veränderungen in der Stellung von Herrscher und Bischöfen in diesem Modell.

MICHÈLE GAILLARD (Lille) bot zum Auftakt der siebten Sektion einen Panoramablick über die monastischen Reformen Ludwigs des Frommen. Dabei betonte sie, dass diese von den Zeitgenossen keineswegs als Neuerung verstanden wurden, sondern eine Besinnung auf die traditionellen Kernbereiche monastischen Lebens und seiner Funktion für die gesamte Gesellschaft bezweckten. Zu diesem Kernbereich gehörte auch der Umgang mit Reliquien. Deren in Krisenzeiten zu Legitimationszwecken stattfindende Erhebung oder Umbettung thematisierte MARTINA CAROLI (Bologna). Als Beispiel diente ihr die 833 zunächst missglückte Etablierung eine neuen Kultes um die merowingische Königin Balthild durch Heilwig, Äbtissin von Chelles und zugleich Mutter der Kaiserin Judith. GERHARD SCHMITZ (Tübingen) wiederum zeigte in einer Detailstudie der Akten des Aachener Konzils von 836, dass diese nicht in den pseudo-isidorischen Fälschungen verwendet wurden. Vielmehr hätten beide Werke unabhängig voneinander eine besondere Handschriftenfamilie zu den Reformkonzilien von 829 benutzt.

Mit der achten und neunten Sektion richtete sich der Fokus auf die politische Diskussion der Krisenzeit. So verwies COURTNEY M. BOOKER (Vancouver) auf die Bedeutung des Gewissens als legitimatorischer Maßstab und auf die zugleich feststellbare Intensivierung einer Sprache der admonitio. VALENTINA TONEATTO (Paris) präsentierte ihre Ergebnisse zur Untersuchung des Vokabulars der Kapitularien und Konzilsakten der Zeit. In diesen Texten zeige sich deutlich das gewachsene Bewusstsein der Zeit von der Bedeutung guter Verwaltung, wobei auch der Herrscher selbst in den Kreis der verantwortlichen Verwalter einbezogen wird. Eine ähnliche Thematik verfolgte die von ALAIN DUBREUCQ (Lyon) beigesteuerte Übersicht der Fürstenspiegel jener Zeit. Sein Schwerpunkt lag dabei auf der Via regia des Smaragdus von St. Mihiel, deren Entstehung oder mögliche Überarbeitung Dubreucq in Verbindung mit den Kaiserkrönungen Ludwigs 813/816 bzw. mit dem so genannten Aufstand Bernhards von Italien brachte. Die beiden Vorträge von DAVID GANZ (London) und THOMAS SCHARFF (Braunschweig) richteten sich verstärkt auf krisenhafte Wahrnehmungen. So präsentierte Ganz die vermehrte Rückführung aktueller Probleme auf den Teufel, worin ein Gradmesser für die Schwere der Krise zu erblicken sei. Scharff verwies auf das ungewöhnliche Phänomen, wonach im 9. Jahrhundert trotz einer nahezu vollständigen Abwesenheit von Häresien intensive Häresie-Diskurse geführt wurden. MAYKE DE JONG (Utrecht) schließlich wandte sich energisch gegen eine anachronistische Rückprojektion der Trennung von Staat und Kirche in das Frühmittelalter.

Im letzten Vortrag der Tagung bot RUDOLF SCHIEFFER (München) eine Evaluation der Zeit Ludwigs des Frommen innerhalb der karolingischen Geschichte. Dabei verwies er exemplarisch auf drei Aspekte: die Folgen des Expansionsstops für die Situation innerhalb des Reiches, das (erfolgreiche) reformerische Bemühen um größere Einheitlichkeit bei gleichzeitigem Scheitern einer auf das Kaisertum ausgerichteten neuen Nachfolgekonzeption, sowie die trotz aller politischen Krisen fortgesetzte kulturelle Blüte im Frankenreich.

Die abschließende Table Ronde gestaltete sich als Plenardiskussion. Kurze Statements von vier Mitgliedern der Projektgruppe (Richard Corradini, Wien; Rutger Kramer, Berlin; Sören Kaschke, Berlin; Thomas Scharff) dienten hierbei zur Strukturierung der Debatte.

Insgesamt zeigte sich hier wie auf der ganzen Konferenz, dass die Forschung alte Kontroversen weitgehend hinter sich gelassen hat. Nicht länger wird die Herrschaft Ludwigs des Frommen vor allem unter verfassungsgeschichtlicher Perspektive in den Blick genommen und exklusiv mit einem negativ gefassten Krisenbegriff assoziiert. Anstatt „Kirche“ und „Staat“ oder (kulturelle) Blüte- und (machtpolitische) Verfallszeit gegeneinander in Stellung zu bringen, fällt der Blick nun verstärkt auf die Interdependenzen in der Entwicklung der karolingischen Gesellschaft des 9. Jahrhunderts.

Konferenzübersicht:

Conférence inaugurale
Jean-Marie Moeglin: La mémoire de Louis le Pieux (IXe-XXIe siècle) – Roi clément ou roi faible ?

Première séance

Stefan Esders: Die Krise der Regierung Ludwigs des Frommen: Bilanz eines Forschungsprogramms

Steffen Patzold: La crise, un phénomène relatif ? L’évolution des modes de perception

Philippe Depreux: Les années de crise, une césure ?

Deuxième séance

François Bougard: Les relations entre l’Italie et le reste de l’Empire carolingien

Hermann Kamp: Frieden schließen mit Heiden? Ludwig der Fromme, seine Nachfolger und die Herausforderung durch die Normannen im Frankenreich

Troisième séance

Yves Sassier: Représentation, délégation, ministerium

Karl Ubl: Die Krise von 830 und der Entwurf eines imaginären Strafrechts. Die Kapitulariensammlung des Benedictus Levita

Laurent Jegou: Les enjeux sociaux et politiques des réformes judiciaires de Louis le Pieux

Quatrième séance

Max Diesenberger: Predigt und Politik im frühmittelalterlichen Bayern

Karl-Georg Schon: Dreimal Pseudoisidor

Florence Close: O insecabilis unitas. Considérations sur l’évolution de la théologie politique carolingienne sous le règne de Louis le Pieux

Cinquième séance

Jean-Pierre Devroey: L’économie carolingienne est-elle cyclique ?

Josiane Barbier: Fisc et ressources

Peter Landau: Das Capitulare de villis – ein Gesetz Ludwigs des Frommen

Sixième séance

Régine Le Jan: Aux frontières de l’idéel, le modèle familial en question: les factions et les ressorts de la haine

Matthias Kloft: Pactum

Raffaele Savigni: L’Église et l’épiscopat des temps carolingiens en tant que corps social

Septième séance

Michèle Gaillard: La politique monastique de Louis le Pieux et de Benoît d'Aniane : réforme ou uniformisation ?

Gerhard Schmitz: ...quaedam in aecclesiastico ordine confusa videntur – Das Konzil von Aachen 836 und seine Folgen

Martina Caroli: Marcellin, Pierre et les autres: bâtisseurs d’empires sur terre et aux cieux

Huitième séance

Courtney M. Booker: Murmurs and Shouts: Speaking the Conscience in Carolingian Narratives

Mayke De Jong: Scapegoats

David Ganz: The Devil

Neuvième séance

Alain Dubreucq: La littérature des miroirs carolingiens

Thomas Scharff: Ketzerei in der Krise. Zur Bedeutung von Häresie und Häresiediskursen in der Regierungszeit Ludwigs des Frommen

Valentina Toneatto: Le vocabulaire monastique dans les capitulaires de 829

Conférence de clôture
Rudolf Schieffer: Der Platz Ludwigs des Frommen in der fränkischen Geschichte

Table ronde conclusive